Hämoglobinopathien

Die Hämoglobinopathien sind die häufigsten monogen bedingten Erkrankungen weltweit. Der Begriff Hämoglobinopathien bezeichnet erbliche Störungen der Funktion des Blutfarbstoffes. Der Blutfarbstoff Hämoglobin ist zuständig für den Sauerstofftransport im Blut und setzt sich aus vier Proteinketten (Globine), die jeweils ein Häm-Molekül tragen, zusammen. Man unterscheidet aufgrund ihrer Zusammensetzung verschiedene Arten von Hämoglobinen. Im Blut gesunder Erwachsener finden sich drei Hämoglobinarten in folgenden Anteilen:

  • 97% HbA (bestehend aus zwei alpha- und zwei beta-Globinen)
  • 2-3% HbA2 (bestehend aus zwei alpha- und zwei delta-Globinen)
  • < 0,5% HbF (bestehend aus zwei alpha- und zwei gamma-Globinen)

Ursachen

Je nach zugrunde liegendem genetischen Defekt unterscheidet man innerhalb der Hämoglobinopathien die Thalassämien und die Hämoglobinstrukturanomalien. Bei den Thalassämien wird aufgrund eines Synthesemangels zu wenig funktionelles Hämoglobin produziert. Bei Patienten mit einer Hämoglobinstrukturanomalie, wie beispielsweise der Sichelzellanämie, wird abnormes Hämoglobin gebildet. Die Nomenklatur der Hämoglobinopathien ist komplex, richtet sich aber meistens nach der betroffenen Globinkette. Dementsprechend sind bei der alpha-Thalassämie die für das
alpha-Globin kodierenden Gene HBA1 und HBA2 betroffen. Bei der beta-Thalassämie findet sich der Defekt im beta-Globin kodierenden Gen HBB. Im Falle einer Strukturanomalie ist die krankhafte Form des Hämoglobins namengebend, wie beispielsweise bei der HbC-Krankheit. Insgesamt sind bereits weit über 1000 verschiedene Mutationen beschrieben worden, die einer Hämoglobinopathie zugrunde liegen können. Während die beta-Thalassämie in ca. 90% der Fälle durch Punktmutationen verursacht wird, finden sich in ca. 95% der alpha-Thalassämie-Fälle größere Verluste von Genmaterial (sog. Deletionen) und nur selten Punktmutationen. Seltenere Thalassämie-Formen wie Hb-Lepore sind ebenfalls das Resultat größerer Deletionen.

Epidemiologie

Etwa 4,5% der Weltbevölkerung trägt eine Anlage für eine Thalassämie oder Hb-Anomalie. Die beta-Thalassämie ist mit ca. 3% Anlageträgern die häufigste Thalassämie-Form. Etwa 1,5% sind Anlageträger für eine alpha-Thalassämie oder eine andere Hämoglobinopathie. Die Prävalenz ist stark abhängig von der ethnischen Herkunft. Personen, deren Vorfahren aus mediterranen und arabischen Ländern oder aus bestimmten Ländern Asiens und Afrikas stammen, haben ein bedeutend höheres Risiko, Anlageträger zu sein. Schätzungen zufolge dürften in der multiethnisch geprägten Bevölkerung Deutschlands etwa 400.000 Hämoglobinopathie-Genträger leben. Insbesondere in Metropolen wie z.B. Berlin sind Hämoglobinopathien aufgrund der großen ethnischen Vielfalt besonders häufig anzutreffen.

Charakteristika

Hämoglobinopathien führen zu einer Veränderung der hämatologischen Laborwerte. Typischerweise findet sich eine hypochrome Mikrozytose mit oder ohne Anämie. Bei im Referenzbereich liegenden Werten aller hämatologischen Parameter ist eine Hämoglobinopathie i. d. R. ausgeschlossen. Eine Besonderheit des β-Thalassämie Genortes ist das Vorliegen von zwei alpha-Globinketten-kodierenden Genen (HBA1 und HBA2). Normalerweise liegen also vier Genkopien vor, zwei vom Vater und zwei von der Mutter (Genotyp aa/aa). Je mehr HBA-Kopien defekt sind, desto stärker ist die Ausprägung des hämatologischen bzw. klinischen Phänotyps (Gendosis-Effekt). Defekte Genkopien werden als Minus-Symbole (-) dargestellt. Die Schreibweise für Patienten mit HbH-Krankheit mit nur einer intakten HBA-Kopie ist demnach --/-alpha. In seltenen Fällen findet man Erhöhungen der alpha-Globin-Genkopienzahl (sog. Triplikationen oder Quadruplikationen), die i. d. R. klinisch unauffällig bleiben. Patienten mit Hämoglobinopathien sollten bei Kinderwunsch eine genetische Beratung in Anspruch nehmen, um Auswirkungen für den Nachwuchs zu klären.

Tabelle 1: alpha-Thalassämie – Informationen zu Genotyp und Phänotyp

α-ThalassämieKlin. PhänotypGenotypHämatolog. PhänotypHb-Elektrophorese
Minimaunauffällig-α/αα (seltener αα/ααα)hypochr. Mikrozytose, selten Anämieunauffällig
Minormeist unauffällig--/αα (cis) oder -α/-α (trans)hypochr. Mikrozytose, evt. Anämieunauffällig
HbH-Krankheitsehr variabel--/-αhypochr. Mikrozytose, AnämieHbA + HbA2 ↓ + HbH
Hb Bart-KrankheitHydrops fetalis --/--hypochr. Mikrozytose, schwerste AnämieHb Bart (kein HbA, HbA2 und HbF)

Die Tabelle gibt einen Überblick über Klinik, genetischen Defekt, hämatologischen Phänotyp und veränderte Zusammensetzung der Hämoglobinarten in der Hb-Elektrophorese bei ß-Thalassämie. Die α-Globinketten werden von vier HBA-Genkopien kodiert. Ein klinischer Phänotyp wird meist erst bei Inaktivierung von drei Kopien sichtbar.

Tabelle 2: beta-Thalassämie – Informationen zu Genotyp und Phänotyp

Klinik, genetischen Defekt, hämatologischen Phänotyp und veränderte Zusammensetzung der Hämoglobinarten in der Elektrophorese bei beta-Thalassämie. Die beta-Globinketten werden von zwei HBB Genkopien kodiert. Je nach Art der Mutation kann bereits eine defekte Kopie einen klinischen Phänotyp verursachen.

β-Thalassämie Klin. Phänotyp GenotypHämatolog. Phänotyp Hb-Elektrophorese
MinimaunauffälligMutation einer HBB Kopiehypochr. MikrozytoseHbA ↓, HbA2 + HbF ↑  
Minormeist unauffälligMutation einer HBB Kopiehypochr. Mikrozytose, evt. AnämieHbA ↓, HbA2 ↑, HbF variabel
Intermediasehr variabelMutation einer oder beider HBB Kopienhypochr. Mikrozytose, variable AnämieHbA ↓, HbF ↑
MajorauffälligMutation beider HBB Kopienhypochr. Mikrozytose, schwerste Anämie Hb Bart (kein HbA, HbA2 und HbF)

Diagnostik

Bei Verdacht auf eine Hämoglobinopathie ist häufig eine hämatologische Untersuchung kombiniert mit einer Hämoglobinanalyse (Hb-Elektrophorese) ausreichend für eine Diagnosestellung. Allerdings können nicht alle Thalassämie-Formen mit diesen Untersuchungen eindeutig identifiziert werden. Komplexere Formen oder die milden Formen der alpha Thalassämie bedürfen einer molekulargenetischen Untersuchung. Weiterhin sind genetische Untersuchungen bei präventiven Fragestellungen angezeigt. Diese umfassen die Pränataldiagnostik, sowie Ermittlung einer Anlageträgerschaft bei Verwandten bzw. Nachkommen von Patienten mit einer bekannten Thalassämie. Die genaue Art der Mutation gibt häufig Hinweise über die zu erwartende Ausprägung der Erkrankung. Bei der Familienplanung ist der genetische Status beider Partner, auch wenn diese klinisch unauffällige Thalassämie-Anlagen tragen, wichtig zur Einschätzung des Risikos für die Nachkommen.

Methoden und Leistungsspektrum am IMD

Bei unseren molekulargenetischen Untersuchungen kommen DNA-Sequenzierung und MLPA (Multiplex Ligation-dependent Probe Amplification) zum Einsatz. Diese modernen Methoden tragen der Tatsache Rechnung, dass in dem Einwanderungsland Deutschland aufgrund der ethnischen Heterogenität eine große Vielfalt von Mutationen anzutreffen ist. Wir sind in der Lage, unterschiedlichste Hämoglobinopathien wie alpha-Thalassämie, beta-Thalassämie, Sichelzellkrankheit sowie seltenere Thalassämie-Formen (z. B. Hb-Lepore) nachzuweisen.